Weisheit (hmkx,
Swfia)
heißt im Alten Testament eine Lebenspraxis, die von der Erkenntnis
der Gesetzmäßigkeiten getragen ist, die der Welt innewohnen.
Zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur zählen Bücher wie Sprüche,
Ijob, Kohelet, und die späteren
Sirach und Weisheit Salomos.
In der Weisheitsliteratur geht es um die Frage der rechten Gestaltung des
Lebens. Eine Literatur dieser Art gibt es auch bei den anderen orientalischen
Völkern, doch ist die israelitische Weisheit dadurch gekennzeichnet,
daß alles auf die Gottesfurcht bzw. die Furcht des Herrn zentriert
wird. In einigen Büchern wird die Weisheit selbst, die Swfia
oder Chokma (hmkx),
zu einer Äußerungsform Gottes gegenüber der Schöpfung.
Ja, die Weisheit war selbst bei der Schöpfung mit dabei.
In Ijob 28, 20-27,
einem späten Einschub in das Ijob-Buch, heißt es:
“Die
Weisheit aber, wo kommt sie her, und wo ist der Ort der Einsicht?
Verhüllt
ist sie vor aller Lebenden Auge, verborgen vor den Vögeln des Himmels.
Abgrund
und Tod sagen: Unser Ohr vernahm von ihr nur ein Raunen.
Gott
ist es, der den Weg zu ihr weiß, und nur er kennt ihren Ort.
Denn
er blickt bis hin zu den Enden der Erde; was unter dem All des Himmels
ist, sieht er.
Als
er dem Wind sein Gewicht schuf und die Wasser nach Maß bestimmte,
als
er dem Regen das Gesetz schuf und einen Weg dem Donnergewölk,
damals hat
er sie gesehen und gezählt, sie festgestellt und erforscht.” (Ijob
28, 20-27)
Das heißt, daß in der Schöpfung
die Weisheit Gottes verborgen liegt, und nach diesem späten Kapitel
in Ijob ist sie auch nur ihm zugänglich. Von hier aus geht die Weisheit
in der Apokalyptik und in der späteren Weisheitsliteratur getrennte
Wege. Ein später Text aus dem Buch Henoch kann zeigen, wie in der
Apokalyptik die Beziehung von Himmel und Erde, von Gottes Welt und unserer
Geschichte gespalten wird:
Henoch, Bilderreden, 1Hen 42
"Da die Weisheit
keinen Platz fand, wo sie wohnen sollte, wurde ihr in den Himmeln eine
Wohnung zuteil. Als die Weisheit kam, um unter den Menschenkindern Wohnung
zu nehmen, und keine Wohnung fand, kehrte die Weisheit an ihren Ort zurück
und nahm unter den Engeln ihren Sitz. Als die Ungerechtigkeit aus ihren
Behältern hervortrat, fand sie die, die sie nicht suchte, und ließ
sich unter ihnen nieder wie der Regen in der Wüste und wie der Tau
auf durstigem Lande." (1Hen 42)
In der Apokalyptik findet also die Weisheit
keinen Platz auf der Welt, auf dem sie heimisch werden könnte, weil
sie in ihr Eigentum kommt. Der Bruch, der auf kosmischer Ebene schon gegeben
ist, muß sich daher auch in der Geschichte zeigen: Diese Geschichte,
aus der die göttliche Weisheit gewichen ist, muß an ihr Ende
kommen und selber weichen. Nach diesem Weltenende wird dann eine neue Welt
erhofft, in der Gottes Präsenz ohne Einschränkung gesichert ist.
Um zwischen der himmlischen Sphäre,
in der Gottes Weisheit zu Hause ist, und der Welt, die gottfern geworden
ist, einen Kontakt herzustellen, braucht es den Offenbarer, der in den
Himmel steigt, um die Weisheit auf die Erde zu holen. Dafür ist besonders
Henoch, die älteste apokalyptische Gestalt, prädestiniert, weil
von ihm in der Genesis gesagt wurde, daß er zu Gott entrückt
worden sei.
Wie spätere Weisheitsliteratur
die Welt deutet, zeigt Kohelet, ein jüdischer Weisheitslehrer des
3. Jahrhunderts v. Chr:
Kohelet 3, 1-13
1 Alles
hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine
bestimmte Zeit:
(...)
11 Gott
hat das alles zu seiner Zeit auf vollkommene Weise getan. Überdies
hat er die Ewigkeit in alles hineingelegt, doch ohne daß der Mensch
das Tun, das Gott getan hat, von seinem Anfang bis zu seinem Ende wiederfinden
könnte.
12
Ich hatte erkannt: Es gibt kein in allem Tun gründendes Glück,
es sei denn, ein jeder freut sich, und so verschafft er sich Glück,
während er noch lebt,
13
wobei zugleich immer, wenn ein Mensch ißt und trinkt und durch seinen
ganzen Besitz das Glück kennenlernt, das ein Geschenk Gottes ist.
(Koh 3,1.11-13)
Gott ist also nach Kohelet im Glück
des Alltags gegenwärtig. Kritisch sieht er dagegen, wenn jemand immer
nach Zeichen für die Zukunft Ausschau hält und die Gegenwart
aus dem Blick verliert:
"Wer ständig
nach dem Wind schaut, kommt nicht zum Säen,
wer ständig
die Wolken beobachtet, kommt nicht zum Ernten.
Wie du den
Weg des Windes ebensowenig wie das Werden des Kindes im Leib der Schwangeren
erkennen kannst, so kannst du auch das Tun Gottes nicht erkennen, der alles
tut. Am Morgen beginne zu säen, auch gegen Abend laß deine Hand
noch nicht ruhen; denn du kannst nicht im voraus erkennen, was Erfolg haben
wird, das eine oder das andere, oder ob sogar beide zugleich zu guten Ergebnissen
führen." (Koh 11,4-5)
Die immerwährende Wiederkehr des
Gleichen ist für Kohelet (nach neueren Interpretationen) nichts Sinnloses,
sondern Zeichen der Stabilität der Welt, in der es uns geschenkt ist,
sich unter den Augen Gottes einzurichten.
Jesus Sirach, ein jüdischer
Weisheitslehrer, der um 180 v. Chr. in Jerusalem für seine Schüler
und eine größere Öffentlichkeit lehrte und schrieb, bringt
den bejahenden Ansatz der Weisheit nach den kritischen Schriften
Ijob und Kohelet nochmals in eine Synthese:
Die Weisheit war bei der Schöpfung
dabei, sie wohnt der Welt inne. Die Weisheit hat sich aber einen besonderen
Platz erwählt, wo sie Wohnung nimmt, nämlich im Volk Israel,
in Jerusalem, im Tempel. Den Zugang zur Weisheit findet man im Gesetz,
in den Schriften des Mose.
Jesus Sirach 16, 26-28
“Als
Gott am Anfang seine Werke erschuf und ihnen zu ihrem Dasein Gesetze gab,
hat er ihre Aufgabe für immer festgelegt und ihren Machtbereich für
alle Zeiten. Sie ermatten nicht und werden nicht müde, sie lassen
nicht nach in ihrer Kraft. Keines seiner Werke verdrängt das andere,
und bis in Ewigkeit widerstreben sie seinem Befehl nicht.” Sir 16,26-28
Weisheitliche Denfiguren prägen
auch das Schrifttum des Neuen Testaments.
Franz Böhmisch 29. Juni 1998, sir.htm