Glossar: Weisheit 

Bibelwissenschaft
© Franz Böhmisch
Weisheit (hmkx, Swfia)  heißt im Alten Testament eine Lebenspraxis, die von der Erkenntnis der Gesetzmäßigkeiten getragen ist, die der Welt innewohnen. Zur alttestamentlichen Weisheitsliteratur zählen Bücher wie Sprüche, Ijob, Kohelet, und die späteren Sirach und Weisheit Salomos. In der Weisheitsliteratur geht es um die Frage der rechten Gestaltung des Lebens. Eine Literatur dieser Art gibt es auch bei den anderen orientalischen Völkern, doch ist die israelitische Weisheit dadurch gekennzeichnet, daß alles auf die Gottesfurcht bzw. die Furcht des Herrn zentriert wird. In einigen Büchern wird die Weisheit selbst, die Swfia oder Chokma (hmkx), zu einer Äußerungsform Gottes gegenüber der Schöpfung. Ja, die Weisheit war selbst bei der Schöpfung mit dabei.

In Ijob 28, 20-27, einem späten Einschub in das Ijob-Buch,  heißt es:

Das heißt, daß in der Schöpfung die Weisheit Gottes verborgen liegt, und nach diesem späten Kapitel in Ijob ist sie auch nur ihm zugänglich. Von hier aus geht die Weisheit in der Apokalyptik und in der späteren Weisheitsliteratur getrennte Wege. Ein später Text aus dem Buch Henoch kann zeigen, wie in der Apokalyptik die Beziehung von Himmel und Erde, von Gottes Welt und unserer Geschichte gespalten wird:

Henoch, Bilderreden, 1Hen 42

In der Apokalyptik findet also die Weisheit keinen Platz auf der Welt, auf dem sie heimisch werden könnte, weil sie in ihr Eigentum kommt. Der Bruch, der auf kosmischer Ebene schon gegeben ist, muß sich daher auch in der Geschichte zeigen: Diese Geschichte, aus der die göttliche Weisheit gewichen ist, muß an ihr Ende kommen und selber weichen. Nach diesem Weltenende wird dann eine neue Welt erhofft, in der Gottes Präsenz ohne Einschränkung gesichert ist.

Um zwischen der himmlischen Sphäre, in der Gottes Weisheit zu Hause ist, und der Welt, die gottfern geworden ist, einen Kontakt herzustellen, braucht es den Offenbarer, der in den Himmel steigt, um die Weisheit auf die Erde zu holen. Dafür ist besonders Henoch, die älteste apokalyptische Gestalt, prädestiniert, weil von ihm in der Genesis gesagt wurde, daß er zu Gott entrückt worden sei.

Wie spätere Weisheitsliteratur die Welt deutet, zeigt Kohelet, ein jüdischer Weisheitslehrer des 3. Jahrhunderts v. Chr:

Kohelet 3, 1-13
 

Gott ist also nach Kohelet im Glück des Alltags gegenwärtig. Kritisch sieht er dagegen, wenn jemand immer nach Zeichen für die Zukunft Ausschau hält und die Gegenwart aus dem Blick verliert: Die immerwährende Wiederkehr des Gleichen ist für Kohelet (nach neueren Interpretationen) nichts Sinnloses, sondern Zeichen der Stabilität der Welt, in der es uns geschenkt ist, sich unter den Augen Gottes einzurichten.
Jesus Sirach, ein jüdischer Weisheitslehrer, der um 180 v. Chr. in Jerusalem für seine Schüler und eine größere Öffentlichkeit lehrte und schrieb, bringt den bejahenden Ansatz der Weisheit nach den kritischen Schriften Ijob und Kohelet nochmals in eine Synthese:
Die Weisheit war bei der Schöpfung dabei, sie wohnt der Welt inne. Die Weisheit hat sich aber einen besonderen Platz erwählt, wo sie Wohnung nimmt, nämlich im Volk Israel, in Jerusalem, im Tempel. Den Zugang zur Weisheit findet man im Gesetz, in den Schriften des Mose.

Jesus Sirach 16, 26-28

Weisheitliche Denfiguren prägen auch das Schrifttum des Neuen Testaments.
 

Franz Böhmisch 29. Juni 1998, sir.htm